10 Basics ergänzend zur Tour…
Für alle, die wie ich in den 60er Jahren Kind in einem Wiener Gemeindebau waren – in meinem Fall war es einer in Simmering, dem 11. Wiener Gemeindebezirk – war dieses Glossar ein Kompass durch das Alltagsleben drinnen und draußen. Die Reihenfolge ist die meiner Erinnerungen.
Hausmeisterin
Der offizielle Berufstitel der Hausmeisterin war schon in meiner Kindheit Hausbesorgerin, auch wenn das niemand so gesagt hat. Sie hatte also für den ganzen Gemeindebau oder bei den größeren Bauten für ein paar Stiegen Sorge zu tragen: Ordnung halten, Stiegenhäuser waschen, den Schlüssel für die Waschküche verwalten und für Disziplin beim Kindsvolk zu sorgen, vor allem im Hof. Aus letzterem Grund war sie für uns eher eine – strenge – Meisterin, deren oftmalige Ermahnungen zur Ruhe und Einhaltung des Ballspielverbots wir zwar nicht dauerhaft, aber doch immer wieder kurzfristig gefolgt sind. Sehr selten soll es auch Hausmeister gegeben haben, mir ist allerdings nie einer begegnet. Heute sind HausmeisterInnen eine Seltenheit geworden, werden von Wiener Wohnen politisch korrekt nur noch HausbesorgerInnen genannt und häufig durch HausbetreuerInnen ersetzt, eine Art fliegendes Einsatzkommando für Reinigung, Pflege und Wartung. Dass die GemeindemieterInnen an jedem Monatsersten bei der Hausmeisterin den Zins (Wienerisch für die Miete) bezahlt haben, ist schon so lang her, dass einem gar nicht mehr wahr vorkommt.
Klopfstange
Eigentlich eine zum Aufhängen von Teppichen gedachte Vorrichtung, um ihnen vermittels eines Teppichklopfers (auch Pracker genannt und in unseliger Fehlverwendung durch manche Eltern seinerzeit auch zur Züchtigung der Kinder verwendet) den Staub auszutreiben. Für kindliche und jugendliche BewohnerInnen diente die Klopfstange jedoch als Turngerät (Felgeaufschwung, Umschwung etc.) oder Sitzstange (Sprießerl). Die Vertreibung von dort durch die Hausmeisterin war stets zu gewärtigen. Mit der Verbreitung von elektrischen Staubsaugern in den Haushalten hat die Klopfstange ihre ursprüngliche Bedeutung zunehmend verloren. In modernen Gemeindebauten werden gar keine Klopfstangen mehr errichtet. Arme Kinder!
Hof
Die bedeutenden großen Wiener Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit wie etwa die Wohnhausanlage Sandleiten (Sandleitenhof), der Karl Marx Hof und der Reumannhof tragen den „Hof“ schon im Namen. Um einen oder mehrere Höfe gruppieren sich die Stiegen dieser Superblocks, dort fanden die BewohnerInnen Platz, Luft, Grünflächen, Spielplätze und Gelegenheit zum Zusammenkommen. Für die Kinder im Gemeindebau war das Spielen im Hof am schulfreien Nachmittag oder in den Ferien die Freizeitgestaltung schlechthin. „Darf die Susi in den Hof kommen?“ wurden die (in den 60er-Jahren meistens als Hausfrauen tagsüber daheim anzutreffenden) Mütter beim Abholen des Nachbarkinds gefragt. Nicht in den Hof dürfen war eine Sanktion für untaugliches Benehmen lang vor dem Fernsehverbot, das angesichts nur weniger Stunden Kinderprogramms pro Woche ohnedies nur bedingt wirksam war. Bemerkenswert ist, dass auch in meinem in den 60er-Jahren errichteten Simmeringer Gemeindebau in der schlichten Form eines Quaders ganz ohne echten Hof, die Kinder im Hof gespielt haben, Tempelhupfen zum Beispiel.
Einfahrt
Die großen Höfe brauchten entsprechende Einfahrten, große Torbögen, oft mit Eisengittertoren zu verschließen. Wer sie durchschreitet, spürt sogleich, dass er in eine eigene Welt eintritt. Selten fuhr und fährt jemand oder etwas durch diese Einfahrten, umso mehr laden sie zum Spielen ein: schattig, geschützt, überdacht, dunkel, hoch, weit und doch heimelig. Geradezu gemacht für den Aufenthalt von Kindergruppen, die Einfahrtswände wie geschaffen dafür, einen Ball gegen sie zu dreschen. In meiner Erinnerung haben die Buben dort die Wucht ihres Fußballtritts demonstriert, die Mädchen eher artige Geschicklichkeitsspiele veranstaltet. Gemeinsam war allen Unterfangen, dass der Ball unweigerlich gegen die hinter der Einfahrt gelegene Wohnung der Hausmeisterin und ihres im E-Werk schichtarbeitenden Gatten gepumpert (Wienerisch für heftig geklopft) hat, was zu sofortiger Abmahnung unter Hinweis auf das Ballspielverbot geführt hat. Nicht alle Einfahrten hatten übrigens Tore, weshalb die Haustorschlüssel zu den Stiegen für das verpflichtende nächtliche Versperren gesorgt haben.
Ballspielverbot
Meine Kindheitsjahre waren von Verboten durchzogen. Verbotsschilder gehörten deshalb auch zu den ersten Texten, die ich lesen konnte. Im Zinshaus meiner Großmutter aus der Gründerzeit gab es ein ganz wunderbares: „Betteln und Hausieren verboten“. Selten schon damals und darum noch interessanter war „Ausspucken verboten“. In der Eisenbahn war „Hinauslehnen verboten“ und im Amalienbad „Randsprünge verboten“. Dass das „Betreten des Rasens verboten“ war in so gut wie jedem Park der Stadt kam uns ganz normal vor. Ebenso dass „Ballspielen verboten“ war in unserer Einfahrt. Und das nicht nur wegen der Hausmeisterin sondern ganz und gar offiziell auf einem Blechschild mit der Abbildung eines Fußballbuben.
Tempelhupfen
Himmel und Hölle heißt es auch, dieses Spiel, das damals nur Mädchen gespielt haben, ohne dass das jemand genderkritisch gesehen hätte. Mit Kreide wurden im Hof die Felder aufgemalt, die es auf einem Bein und in der richtigen Reihenfolge zu bespringen galt bis zum Wenden im Himmel. Dass wir dabei den Grundriss einer Kirche aufgemalt haben – Langschiff, Querschiff, Apsis – hab ich erst viel später verstanden.
AUTO
Woran erkenne ich eine Gemeindebau-Altersgenossin? Daran, dass sie weiß, warum an unseren damaligen Fassaden und in der Einfahrt so oft in Kreideschrift AUTO zu lesen war. Das Geheimnis entschlüsselt sich so: Gerade in den Randbezirken machten sich die Buben (immer die Buben…) einen unanständigen Spaß daraus, Graffiti mit der Wiener Bezeichnung für das weibliche Genitale anzubringen: FUT. Dieser Ungeheuerlichkeit begegneten alte (wir haben jedenfalls immer angenommen, dass sie alt wären), sittenstrenge und kreidebewaffnete Damen mit einer schlichten Korrekturmaßnahme. Sie bestand darin, aus dem F ein A zu machen und ein O anzuhängen. Voilà, die Schweinerei hatte sich erledigt.
Stiege
Ein paar kleine Gemeindebauten gibt es wohl. Der Sigmund-Freud-Hof in der Leopoldstadt hat etwa nur 24 Wohnungen. Die sind in einem Treppenhaus unterzubringen. Die 1112 Wohnungen im Erdberger Rabenhof aus den 20er-Jahren bedürfen jedoch genauso der Aufteilung auf mehrere Stiegen wie die über 1400 Wohneinheiten des moderneren Heinz-Nittel-Hofs auf der Brünner Straße. Die durchnummerierten Stiegen dienen der Orientierung und schaffen auch so etwas wie soziale Zugehörigkeit. Man „gehört“ auf die 10-er Stiege oder ist wie die „Blume aus dem Gemeindebau“ von Wolfgang Ambros die „schönste Frau von der Vierer-Stiagn“. Die Stiege mit der Dienstwohnung der Hausmeisterin nahm und nimmt in der Regel eine zentrale Position ein, ebenso wie die, in der sich die Waschküche befindet.
Waschküche
Die Gemeindebauten des Roten Wien und auch danach haben immer auch gesellschaftspolitische Dimension bedient. Sie sollten Gesundheit fördern, des beschwerliche Leben der arbeitenden Klasse erleichtern und das Beste aus den BewohnerInnen herausholen. Manche von ihnen beherbergten daher auch Kindergärten, Tanzsäle und Bibliotheken. In nahezu allen gab es eine Waschküche. Private Waschmaschinen waren bis in die frühen 60er Jahre eine Seltenheit, Wäsche wurde in Kesseln am Herd ausgekocht und in den Wohnungen zum Trocknen aufgehängt. Darunter litt das Raumklima ebenso wie es den Platzmangel verstärkte. Die Waschküche im Gemeindebau war daher von Beginn weg eine Einrichtung, die das Leben der Familien erleichterte, wenngleich das Waschen durchwegs an den Frauen hängengeblieben ist. Meine Mutter hatte wohl eine eigene Waschmaschine, aber die „große“ Wäsche (Bettwäsche, Handtücher) wurde in der Waschküche erledigt, die noch dazu über einen Wäschetrockner verfügte. Waschtag war einmal alle zwei Wochen und man musste sich dafür in eine Liste bei der Hausmeisterin eintragen und rechtzeitig den Waschküchenschlüssel abholen. Nie habe ich einen Mann die Waschküche benutzen sehen. Sehr viel später wurden die Waschküchen in den Gemeindebauten auf ein elektronisches Zutritts- und Nutzungssystem umgestellt und dann wohl auch gendergerechter benutzt.
Haustorschlüssel
Die Wiener Haustorsperrverordnung aus 1972 regelt, dass das Haustor zwischen 22 Uhr und 6 Uhr versperrt zu sein hat. Als ich ein Teenager war, wurde um 21 Uhr gesperrt, und wer danach nach Hause wollte, musste einen Haustorschlüssel haben. Über einen eigenen Haustorschlüssel zu verfügen war also eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Von restriktiven Eltern wurde er darum möglichst lang zurückgehalten. Wer seinen Haustorschlüssel vergessen hatte, musste – zur Erinnerung, wir hatten keine Mobiltelefone und Gegensprechanlagen waren noch nicht erfunden – die Hausmeisterin herausläuten. Das zu Zeiten der Habsburgermonarchie, als MieterInnen generell keine Haustorschlüssel ausgefolgt wurden, für das Türöffnen zwischen 22 und 6 Uhr obligatorische „Sperrsechserl“ war in den 60er-Jahren längst abgeschafft. Der grimmige Blick und der deutlich zur Schau getragene Unmut der herausgeläuteten Hausmeisterin war Strafe genug. Hinterm Haustor erwartete die nächtlich Heimkommende der Druckknopf für das „Minutenlicht“, mit dem das schon im Dunkel liegende Stiegenhaus für die letzten Schritte bis zur Wohnungstür erhellt wurde.
Haben Sie jetzt Lust auf eine Führung durch ein paar Wiener Gemeindebauten bekommen? Hier gehts zur Tour Ringstraße des Proletariats.